Bloggen – Ausschnitt aus dem 8. Kapitel „Schreiben für das WWW“ von Martin Gasteiner (Zusammenfassung und kritische Anmerkung)

Warum wird Bloggen in wissenschaftlichen Zusammenhängen im Gegensatz zu politischen so wenig genutzt? – Bietet es doch offenbar eine gute Möglichkeit zur Einübung in die Schreib- und Publiziertätigkeit und vermittelt durch unterschiedliche individuell-kollektive Kombinationen daneben noch Internet- und Vernetzungskompetenzen; außerdem unterstützt es ähnlich einem individuell geführten Journal – obwohl das Lesepublikum einen wesentlichen Unterschied ausmacht – aufgrund der regelmäßigen Einträge die Strukturierung informeller Lernprozesse unabhängig von institutionellen Vorgaben.

Der Einsatz des Computers erfordert hier – aber auch in anderen Zusammenhängen – eine neue Art des Schreibens, die Produktion einer Kurzform mit Andockmöglichkeiten, die die Generierung und Diskussion neuer Bedeutungen ermöglicht, eine Form, die hier zum Massenphänomen wird; allerdings entsteht dabei erst durch die Vernetzung mit der Außenwelt über das Web ein neues Medium, wie es etwa in Weblogs in Erscheinung tritt. Die Absenkung der technischen Zugangsbarrieren macht es möglich, mit geringem Aufwand eine eigene Webumgebung zu gestalten, eine Kombination aus persönlicher Homepage und Diskussionsforum auf Basis regelmäßiger Aktualisierung, deren rückwärtschronologisch angeordnete Einträge eine einheitliche Struktur und eine jeweils eigene Adresse (URL) aufweisen, über die ein Andocken an die Blogsphäre, d.h. eine Bezugnahme und eine Verknüpfung mit anderen Blogs, aber auch eine Einbindung in übergeordnete Strukturen mit entsprechenden Suchmöglichkeiten erfolgen kann.
Für das Betreiben eines Blogs ist es vorerst notwendig, durch Lesen, Kommentieren und Nachahmen anderer Blogs einen eigenen Stil zu finden, der sich von dem eines Journals trotz mancher Parallelen doch grundsätzlich unterscheiden muss. So kann zwar auch hier ein bestimmter Inhalt als Vorbereitung für eine Diskussion oder Prüfung nochmals schreibend durchdacht werden, im Zentrum steht aber die Teilhabe anderer, soll doch ein bestimmtes Lesepublikum angesprochen und gewonnen werden. Dazu können Formulierungen in Frageform und kollegiale Kommentare hilfreich sein, schließlich ist auch die Entstehung eines Teamprojekts möglich. Außerdem werden vielfach erschwerte Sozialkontakte während des Studiums hier örtlich und zeitlich erleichtert.
Ein Weblog kann die unterschiedlichsten Aufgaben erfüllen. Er kann dazu dienen, als Plattform nach Erkundungstouren durchs Web die entsprechenden Links zu speichern, und so als Gedächtnisstütze und Archiv einen ortsunabhängigen Zugriff auf bestimmte Ressourcen ermöglichen; weiters kann hier ein persönliches Online-Lernjournal entstehen, das die Bewusstwerdung von Standpunkt, Zielen, Werdegang und universitärer Sozialisation fördert und dabei hilft, wissenschaftliche Fragestellungen aus der Gegenwart heraus zu entwickeln und so auch eine Grundlage zur Benennung der eigenen Interessensgebiete, nicht zuletzt im Hinblick auf Diplomarbeit und Dissertation zu gewinnen. Durch Notizen über unterschiedlichste Gedanken, Veranstaltungen, Erfahrungen und selbst gestellte Aufgaben kann ein Weblog außerdem in vielfältiger Weise als Begleiter und persönliches Archiv genutzt werden.
Im Vergleich zum Journal sind die Anforderungen hier allerdings ganz andere. Ausgehend von der Reflexion darüber, ob und in welcher Form ein bestimmter Gedanke überhaupt veröffentlicht werden soll, bietet sich hier die Chance, ihn der Diskussion und Kritik durch andere auszusetzen, ihn zu testen, und so den wissenschaftlichen Diskurs zu erproben. Dieses Schreibexperiment, bei dem einzelne Einträge auch durch Passwort geschützt werden können, erfordert jedenfalls die permanente Überlegung, welche Form verwendet und was überhaupt beabsichtigt wird. Besondere Anforderungen – etwa hinsichtlich Autorschaft und Einübung von Gruppenarbeit – sind mit der Nutzung als Gemeinschaftsplattform verbunden, beispielsweise als Kollaborationsumgebung bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Webprojekts, bei dem die Organisationskommunikation ausschlaggebend sein kann.

Der entscheidende Punkt ist letztlich die Angemessenheit der Einträge, ist die „Ethik des Bloggens“. Sie betrifft nicht nur Zitierkriterien, Fragen geistigen Eigentums und die transparente Korrektur von Fehlinformationen, sondern erfordert auch die kritische Reflexion darüber, bei welcher persönlichen Information Selbstbeschränkung angesagt ist und auf welche vertrauliche Information überhaupt verzichtet werden sollte. (Technisch gibt es die beiden Möglichkeiten, einen Weblog entweder relativ einfach und kostenlos bei einem „Host“ einzurichten, oder einen opensorce-Weblog auf einem eigenen Serverplatz zu installieren, was vor allem eine differenzierte Nutzerverwaltung ermöglicht. Vereinfachungen bei der Veröffentlichung bietet außerdem Desktop-Publishing-Software.)

Auch wenn der Autor sehr anschaulich darstellt, worum es beim Bloggen geht, so lässt er doch die eingangs gestellte Frage offen und verharmlost sie so zur rhetorischen. Anstatt ernsthaft nach einer Antwort zu suchen, wird ausführlich der vielfältige Nutzen des Bloggens gepriesen und nur dahingehend problematisiert, dass dabei bloß einige Besonderheiten beachtet werden müssten. Das hinterlässt unweigerlich den Eindruck, dass dem gewünschten breiteren Einsatz des neuen Mediums einzig und allein die Ignoranz einiger rückständiger Geister im Wege steht*) – ein gängiges Argumentationsschema von „Insidern“, mit dem allerdings die grundlegende Problematik aus dem Blickfeld verschwindet.
Warum also so wenig Akzeptanz im wissenschaftlichen Kontext? Der Faktor Zeit scheint mir hier entscheidend. Wer sich eines bestimmten Mediums bedient, der verbindet damit – mehr oder weniger bewusst – immer eine spezifische Vorstellung von angemessener Zeit, sowohl was Produktion als auch was Rezeption der Inhalte betrifft. Wer die Seite eines Buches aufschlägt, hat hinsichtlich beider Aspekte eine andere Vorstellung als beim Anklicken eines Weblog-Eintrags. Der Zeiteinsatz, den Leser/in und Schreiber/in vom jeweiligen Gegenüber erwarten, aber auch den sie selbst bereit sind, aufzuwenden, scheint bei letzterem äußerst knapp bemessen, ein flüchtiges Hinwerfen oder Überfliegen scheint adäquat und die „kurze Form“ nicht zuletzt dadurch bedingt. Aber nicht nur das offensichtliche Einverständnis zwischen Leser/in und Schreiber/in hinsichtlich angemessener Zeit trägt zur Flüchtigkeit des Mediums bei, auch die völlige Offenheit gegenüber potentiellen Leser/inne/n scheint einen spezifischen Schutzmechanismus auszulösen. Wäre es auf den ersten Blick naheliegend, dem durch besonders ausgefeilte Formulierungen zu begegnen, ist der Zeitlogik des Mediums entsprechend zumeist das Gegenteil der Fall, so als sollte durch besonders „flapsige“ Ausdrucksweise absichtlich der Eindruck erzeugt werden, dass hier unter großem Zeitdruck Einträge fabriziert werden, für die man sich vorweg entschuldigt, die also nicht ganz so ernst zu nehmen sind – eine simple Verlegenheitsgeste, durch die man sich leicht aus der Affäre ziehen kann. Eventuelle Flüchtigkeits- und Schreibfehler wirken dabei geradezu entlastend und dienen als Beweis dafür, dass der Satz leider vor Veröffentlichung nicht mehr durchgelesen werden konnte, was ausgesprochen sympathisch wirkt. Ausgefeilte Formulierungen klingen dagegen antiquiert, langweilig, anachronistisch, ja schlimmer noch: sie sind humorlos und uncool. So scheint dem Medium eine doppelte Eskalation der Oberflächlichkeit inhärent zu sein, die sich einerseits zwischen Leser/in und Schreiber/in in ihrem Zeitverständnis, anderseits zwischen dieser Zeitlogik und einem spezifischen Bedürfnis nach Selbstschutz entfaltet.
Diesem Bedürfnis steht aber die Notwendigkeit gegenüber, genügend Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, damit potentielle Leser/innen an meinem Blog hängen bleiben, sich darin verheddern, und ihnen etwas von ihrem knappen Zeitbudget abgesaugt werden kann. Nun ist mit jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung implizit ein gewisses Maß an Selbstdarstellung verbunden, durch den Druck der medialen Form scheint sie aber hier in den Vordergrund gedrängt und dominierend zu werden, und den/die Schreiber/in dazu zu nötigen, sich in einer Mischung aus Exhibitionismus und Verschleierung interessant und schillernd zu geben, eine Aura des Geheimnisvollen zu erzeugen, in der die Äußerungen zumeist verschlüsselt, ironisch oder poetisch daherkommen. Der Anspruch von Wissenschaft, komplexe Sachverhalte möglichst einfach und verständlich darzustellen, zugleich aber den Dingen präzise und umfassend auf den Grund zu gehen – was auch ein gewisses Maß an Zeit und Platz erfordert – scheint damit genauso in Widerspruch zu stehen wie ihre Vorgangsweise, die eigene Selbstdarstellung im Interesse der behandelten Sache weitgehend zurückzunehmen – auch wenn die eigene gesellschaftlich-historische Situierung für die Kulturwissenschaft immer Ausgangspunkt sein muss.
Wenn dieses Bild bewusst überzeichnet ist und ihm so mancher Blog zu widersprechen scheint, so wäre es doch zu kurz gegriffen, einzelnen Akteuren die „Schuld“ an solchen „Fehlentwicklungen“ geben und nicht eine Logik des Mediums selbst und seiner Zeit- und Aufmerksamkeitsstruktur darin sehen zu wollen. Dass sich professionelle Selbstdarsteller in den Vordergrund drängen und wichtig machen, während andere Stimmen in der Minderheit bleiben und übertönt werden, erscheint aus diesem Blickwinkel weniger als Kinderkrankheit eines neuen Mediums denn als Symptom einer den Gesetzen eines medialen Marktes gehorchenden Blogsphäre, in der ein harter Wettbewerb um die knappe Zeit der Rezipienten stattfindet. Der mehrfach gebrachte Vergleich mit einem persönlich geführten Journal ist daher problematisch und irreführend, die Parallelen können nur scheinbare sein, ist doch die Grundkonstellation eine fundamental andere.
Ist das Medium damit für einen wissenschaftlichen Dialog ungeeignet? Auch wenn dem medialen Sog oftmals bewusst durch Betonung wissenschaftlicher Kriterien gegengesteuert wird – ob allerdings eine einfache „Ethik des Bloggens“ ohne Analyse der medialen Dynamik ausreicht, muss bezweifelt werden –, so ist doch zumindest bei öffentlich zugänglichen Einträgen immer ein Kompromiss notwendig: bis zu einem gewissen Grad muss die mediale Logik akzeptiert und auf Nutzergewohnheiten Rücksicht genommen werden. Das kommt auch in der Verwendung der „kurzen Form“ zum Ausdruck, die daher anders als dargestellt mehr Not als Tugend ist. Die daraus resultierenden Begrenzungen wären aber bewusst zu machen. Manche Blogs glauben einen gangbaren Kompromiss darin zu finden, dass sie sich im Bewusstsein des begrenzten Interesses seitens der Leser/innen für die eigenen Überlegungen auf die Vermittlung nützlicher Informationen beschränken, dem eilig Durchreisenden als Wegweiser dienen und ihm eine Absprungbasis für die nächste Station bieten. Bei einem sinnvollen Vergleich mit dem Journal scheint so der Einsatz des Weblogs dem wissenschaftlichen Anspruch am ehesten dort zu entsprechen, wo er sich am weitesten vom Journal entfernt. Für die meisten der im Text angeführten Aufgaben dagegen bietet ausschließlich ein persönlich geführtes Journal eine geeignete, ideale Entfaltungsmöglichkeit; soll daraus aber eventuell doch ein Blog entwickelt werden, kann das nur durch laufende Reflexion auf die mögliche Rezeption erfolgen, was einer wachsenden Entfernung vom Journal gleichkommt. Werden in dieser Weise die dem Medium inhärenten Begrenzungen offensiv berücksichtigt, so scheint mir eine Nutzung auch im wissenschaftlichen Kontext in beschränktem Maß durchaus möglich.

*) Dass man sich über deren Unbeholfenheit und Ahnungslosigkeit außerdem trefflich lustig machen kann, zeigt dieser köstliche Blog-Eintrag unserer eTutorin Marion Romberg.
Schmale - 8. Jan, 11:18

Schmale

Sie holen souverän aus der Sache raus, was rauszuholen ist. Man könnte zB auch argumentieren, dass Blogs in der Wissenschaft Verwendung finden können oder sollen, wenn sie sich umfassend bewährt haben und ihre Dienlichkeit bewiesen ist. Andererseits haben Wissenschaften in allen Medienrevolutionen ihren Anteil am Experiment - mit Absicht oder eher erleidend - gehabt.
Ich bin eher für das bewusste Experimentieren.

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